Samstag, 7. November 2015

Die Willkür des Krieges - Das Dörfchen Lidice

Vergangene Woche habe ich meinen ersten Ausflug außerhalb von Prag unternommen und bin mit einigen Leuten - durch das International Office der Karls-Universität organisiert - nach Lidice gefahren. Noch nie davon gehört? Ich glaube ich hätte auch nicht so schnell davon erfahren, wenn ich nicht bereits in meinem ersten Semester in Münster das Seminar über die ehemalige Tschechoslowakei während des Zweiten Weltkriegs belegt hätte. Das war einer meiner ersten Berührungspunkten mit Tschechien und ich bin froh, das heute teilen zu können. Denn das, was in Lidice geschehen ist, ist für mich noch jetzt beinahe unvorstellbar.
Lidice liegt etwa 20 Kilometer westlich von Prag und wir fuhren mit einem öffentlichen Bus etwa 15 Minuten, stiegen aus und wunderten uns sogleich darüber, wo wir gelandet waren. Weit und breit nur Felder und Rasen. Es war ein so wunderschöner sonniger Tag und die Sonne ließ das rote und orangene Laub wunderbar strahlen. Es war entspannend einmal dem Getummel der Stadt zu entkommen.                             






Um aber verstehen zu können, was dieses Dörfchen, was so unscheinbar und idyllischdaherkommt, so besonders und berühmt macht, ist es wichtig einige historische Zusammenhänge zu kennen. 

Die Tragödie von Lidice fand während des Zweiten Weltkriegs statt. Ab dem 16.März 1939 wurde die damalige Tschechoslowakei von den Nazis als das "Protektorat Böhmen und Mähren" ausgerufen, das bis zum Ende des Krieges am 8. Mai 1945 bestand. Dieses "Schutzgebiet" besaß zwar formell eine Selbstverwaltung, unterstand jedoch durchweg deutschem Befehl und wird aus heutiger Sicht als eine Annexion bewertet. Mit dieser Besatzung erhoffte sich Hitler sowohl wirtschaftlichen Profit, als auch langfristig eine Germanisierung des Gebiets, weil im sogenannten Sudetenland sehr viele Deutsche lebten und weil die Nazis damit ihre berühmte "Heim-ins-Reich"-Politik führten.

Diese Besatzung und die Aufteilung unterschiedlicher Gebiete, vor allem die Eingliederung des Sudetenlandes wurde unter Zustimmung Italiens, Großbritanniens und Frankreichs am 29. September 1938 im berühmten "Münchener Abkommen" beschlossen.

Zunächst umfasste das besetzte Gebiet gemäß diesem Abkommen vorallem das Sudetenland. Schnell machte Hitler jedoch deutlich, dass er das Münchener Abkommen brechen und die "Rest-Tschechei" ebenfalls zu annektieren beabsichtigte.

Am 15. März erreichte Hitler Prag und proklamierte damit die "Zerschlagung der Rest-Tschechei". Das Protektorat wurde durch die Tschechen selbst verwaltet "jedoch im Einklang mit den militärischen und wirtschaftlichen Belangen des Reiches". 
Praktisch unterstand die autonome Selbstverwaltung des Gebiets also sogenannten "Reichsprotektoren". Seit dem September 1941 war Reinhard Heydrich der stellvertretene Reichsprotektor, der für die neuere Geschichte des kleinen Dörfchens Lidice eine zentrale Rolle spielt.

Heydrich ging als "Schlächter von Prag" in die Geschichte ein, da er für die besonders harte Verfolgung und Bestrafung tschechischen Widerstands bekannt war.
So wurde er am 27. Mai 1942 Opfer eines schweren Attentats, welches im Exil geplant und von tschechoslowakischen Fallschirmjägern in der sogenannten "Operation Antropoid", die von Jan Kubis und Jozef Gabcik durchgeführt wurde. Heydrich wurde bei diesem Anschlag schwer verletzt und erlag wenige Tage später am 4. Juni 1942 seinen Verletzungen.

Als Vergeltungsmaßnahme für den Mord an Heydrich begann zu dieser Zeit die sogenannte "Heydrichiáda". Dabei wurden 10000 Tschechen festgenommen und über 1300 getötet. Das "Massaker von Lidice" gilt bis heute als Beispiel für die willkürliche Gewalt dieser Zeit.

Es scheint auf den ersten Blick eigenartig oder zumindest verwunderlich, warum die Nazis gerade dieses Dörfchen für ihre Vergeltungsmaßnahme wählten. Die Begründung ist äußerst perfide. Es soll irgendeine Beziehung zwischen den Attentätern und der Familie Horák bestanden haben, was einer ungefähren Beschreibung von beschlagnahmten Briefen entsprang. Alleine wegen dieser vagen Vermutung entschieden sich die Nazis zu einem Racheakt gegen die gesamte Bevölkerung von Lidice.

Überreste des Hofs der Familie Horák

1942 gab es in Lidice 102 Häuser, 503 Einwohner und 14 Höfe. In der Nacht vom 9. auf den 10. Juni 1942 wurden alle Dorfbewohner zusammengetrieben. Alle 173 Männer über 15 Jahren wurden in den Hof der Familie Horák gebracht und am nächsten Tag ohne Anklage, ohne ihre angeblich begangenen Verbrechen zu erfahren, erschossen.

195 Frauen wurden in das Konzentrationslager Ravensbrück, das größte Frauenlager  auf deutschem Gebiet gebracht, wo 52 von ihnen ermordet wurden. Sieben schwangere Frauen des Dorfes entbanden ihre Kinder und wurden anschließend ebenfalls nach Ravensbrück gebracht. Die 98 Kinder von Lidice wurden nach Litzmannstadt deportiert. 13 Kinder wurden zur Germanisierung in ein Heim gebracht. Die anderen Kinder wurden in das Vernichtungslager Kulmhof deportiert und dort vergast. Die Kinder, die zur Germanisierung ausgesondert wurden, wurden nach dem Krieg in Bayern wieder aufgefunden. Das gesamte Örtchen Lidice wurde niedergebrannt, gesprengt und dem Erdboden gleichgemacht. Das Dorf sollte von Landkarte verschwinden.

Überreste der alten Schule von Lidice
                    

Das Lidice, das heute existiert, wurde im Jahre 1947 und in den darauffolgenden Jahren etwa 300 Meter vom ehemaligen Lidice wieder augebaut. 2000 wurde die installierte Gedenkstätte umfassend renoviert.
Ein kleines Museum zeigt die schicksalhafte Geschichte von Lidice. Ein Spaziergang führt über das ehemalige Gelände von Lidice, mit den Überresten des Hofes der Familie Horák, denen der alten Schule und einigen Denkmälern.
Allen voran hat mich vor allem das Denkmal für die Kinder des Krieges sehr berührt. Eine Bronzestatue der tschechischen Bildhauerin Maria Uchytilová, die 82 lebensgroße Kinder zeigt, die die Kinder von Lidice darstellen sollen und gleichzeitig ein "Denkmal für die Kinderopfer des Krieges" ist.

Nach dem Mittagessen besuchten wir außerdem eine Kunstausstellung in der Lidicer Galerie, welche Kunstwerke von Kindern aus aller Welt zeigt und wir waren alle wirklich sehr begeistert, welche Bilder, Fotografien und Skulpturen zum diesjährigen Thema "Licht" eingesendet wurden.



                        

                            
Denkmal der Lidicer Kinder
  
 
                         
                         
Blick in das Tal und auf das Gelände des ehemaligen Dorfes
                     
                         
Blick auf die Hauptallee des heutigen Lidice
                         
                         
           Die Gedenkstätte mit dem angrenzenden Museum            
                         

Und so ging unser Tagesausflug vorbei. Wer einmal in Prag ist und ein wenig mehr Zeit und Interesse an Geschichte mitbringt, dem kann ich den Besuch von Lidice wirklich empfehlen. Man kommt mit den öffentlichen Verkehrmitteln problemlos hin und sollte mindestens einen halben Tag einplanen.




Ksenia


http://www.lidice-memorial.cz/de/

Lidice Früher. Lidice Heutzutage. 2009.

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